Exakt 211.736 Wörter oder 1.195.114 Zeichen in 135 Kapiteln: Das ist Moby Dick, der Roman von Herman Melville. Ein Beispiel für das Motto der re:publica 2019: „too long; didn’t read“. Ein Stück Weltliteratur, das viele kennen, aber nur wenige wirklich komplett gelesen haben. Und deswegen haben die Macher der größten europäischen Konferenz für die digitale Gesellschaft den Text in Schriftgröße 80 auf 450 Metern Papier ausgedruckt und ihn in der Station Berlin aufgehängt. Der ehemalige Postbahnhof Luckenwalder Straße ist seit 2012 Veranstaltungsort der re:publica, die 2019 mit mehr als 1.000 Sprecherinnen und Sprecher aus 52 Ländern und 615 Sessions Programm stattfand. Definitiv „too much to visit“. Deswegen hier mein ganz persönlicher Ein- und Überblick mit meinen Gedanken dazu – und wo vorhanden, auch mit Links zu den Mitschnitten (Sie verlassen dabei den CC-Blog und gehen direkt zu YouTube).

Und wem das jetzt „too long“ ist: mein Fazit gibt es am Ende des Textes.

Die Themen einer digitalen Gesellschaft

Noch vor einigen Jahren hatte man den Eindruck, sämtliche aktiven deutschen Twitter-User treffen sich an diesen drei Tagen in Berlin. Gestartet als Bloggertreffen im Jahr 2007, ist die re:publica mittlerweile an Themen und an Bedeutung gewachsen, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie mit einer Keynote von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet wurde. Es ist eine Gesellschaftskonferenz, die unser Leben, den Alltag und die Zukunft aus einer digitalen Sichtweise in den Blick nimmt. Deswegen spielen auch Themen wie Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung zunehmend eine große Rolle.

Too long, didn’t read [tl;dr] – das Motto

„Wir widmen die re:publica 19 dem Kleingedruckten. Den Fußnoten. Der Kraft der Recherche, dem Wissen und der Kontroverse. Der Notwendigkeit und Dringlichkeit, die Themen kritisch zu hinterfragen, die polarisieren, uns spalten – oder auch vereinen.“

Das schreiben die re:publica-Macher zum Motto. Unser Leben, die Gesellschaft, die Themen unserer Zeit sind komplex. Es braucht den „long read“ – oder wie Frank-Walter Steinmeier betonte: „Demokratie ist Politik in Langform.“ Das ist die Herausforderung, vor der Kommunikatoren oft stehen: der Spagat zwischen knackigen Botschaften – oder in Denglisch: Content, der „snackable“ ist – und der notwendigen Tiefe, die ein komplexes Thema braucht.

Ist das überhaupt noch relevant?

Doch nicht nur PR-Experten und Unternehmenskommunikatoren spüren die Veränderungen der Kommunikation. Auch Journalisten stehen vor großen Herausforderungen: Sind sie heute Getriebene? Florian Klenk, österreichischer Journalist und Autor, beschrieb in einem Talk, wie die österreichische Regierung bewusst Agenda-Setting betreibt und beispielsweise mit einer hochkarätig besetzten Pressekonferenz aus einem (auf dem Papier) einfachen Verwaltungsakt ein großes Thema macht (hier nachschauen). Randnotiz: Die re:publica fand statt, bevor das Ibiza-Video von Heinz-Christian Strache publik wurde.
Eine der größten Herausforderung heute ist es, „false balance“ zu vermeiden. Nimmt ein Thema in der Berichterstattung zu viel Platz ein, wird es als wichtiger und bedeutsamer wahrgenommen, als es vielleicht ist. Relevanz liegt allerdings auch immer im Auge des Betrachters – und die Antwort auf die Frage „Was ist relevant?“ kann sich stündlich ändern.
Für Journalisten und Kommunikatoren bedeutet das eine schmale Gratwanderung: Sie müssen schnell Bericht erstatten, die Bedürfnisse der Rezipienten erfüllen und zugleich eine gesunde Gelassenheit bewahren, mit Zeit für Recherche und Abwägen. Es allen recht zu machen, gleicht der Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau.

Wer entscheidet hier eigentlich? Und warum?

Vielleicht lösen Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning dieses Dilemma? Seit einigen Jahren sind die Begriffe allgegenwärtig – und werden teilweise auch sehr inflationär verwendet. Ein Algorithmus, der Datensätze sortiert, ist aber noch lange keine KI. Ebenso wenig eine Software, die beispielsweise aus den Ergebnissen eines Fußballspiels eine kurze Meldung zusammenfügt. Für eine KI ist die „Intelligenz“ entscheidend, wobei es aber noch keine allgemeingültige Definition davon gibt, was denn nun intelligent ist und was nicht. Aber es gibt bereits verschiedene Anwendungsfälle von KI-Ansätzen – oder zumindest ausgeklügelten Algorithmen:

  • Im Personalwesen kann KI beispielsweise bei der Bewerberauswahl helfen. Nur: Hier besteht die Gefahr, dass eine KI noch viel diskriminierender vorgehen wird als ein Mensch. Üben vor allem weiße Männer einen bestimmten Job aus, kommt der Algorithmus unter Umständen zum Schluss, dass diese auch am besten dafür geeignet sind.
  • Brigitte Strahwald, Dozentin für Health Communication an der LMU in München, stellte einen Risikorechner für Operationen vor. Sie schilderte eine erstaunliche Beobachtung: Keiner der bisherigen Probanden hat zu Anfang gefragt, wie denn die Entscheidung zustande kommt. Dabei ist das doch die entscheidende Frage, ob ich dem Ergebnis einer solchen digitalen Entscheidungshilfe am Ende trauen kann bzw. trauen möchte. Sie stellte mögliche Gütekriterien für den KI-Einsatz in der Medizin vor. Zu diesen gehört auf jeden Fall der „long read“: Es muss transparent sein, wie die Entscheidung zustande kommt und auf welcher Datenbasis sie gefällt wird.

Auf der re:publica 2018 hatte Physiker Harald Lesch schon die spannende Frage gestellt: Bewegen wir uns eigentlich in die Zeit vor der Aufklärung zurück, wenn wir Entscheidungen Algorithmen überlassen, von denen niemand weiß, wie sie eigentlich zu ihrer Einschätzung kommen?

Welche Entscheidungen können – und wollen – wir abgeben?

Ob und wie KI in unserem Alltag eine Rolle spielen wird, ist weniger eine technische als vielmehr eine ethische Frage. Welche Entscheidungen können, wollen und sollten wir einer KI überlassen – und welche nicht? Geben wir die Kontrolle komplett ab oder bestehen wir darauf, dass Entscheidungen nachvollziehbar bleiben? Und wer schützt uns vor der eigenen Faulheit oder dem eigenen Wunsch, hier auch noch ein paar Cent zu sparen und die KI mal „machen zu lassen“, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt? Noch sind Menschen – zum Glück – empathischer und reflektierter als ein Computer.

Wenn Emojis meine Sprache wären

Es gibt aber auch die leichteren Themen auf der re:publica. Zum Beispiel über Emojis als visuelle Sprache. Spannender Aspekt: Wird die Kommunikation mit Emojis vielleicht eine Art neue Weltsprache? Die junge Generation heute kennt eine Kommunikation ohne diese Symbole schon gar nicht mehr. Vielleicht lassen sich damit Ländergrenzen überwinden? Doch solche Zukunftsvorhersagen sind schwierig und können auch gehörig danebenliegen, wie dieser – sehr unterhaltsame – Vortrag des Autors Theobald Fuchs zeigt.

Sascha Lobo und seine „Predigt“

Ein Pflichttermin auf der re:publica ist der Vortrag von Sascha Lobo – die Internetkoryphäe mit dem roten Hahnenkamm. Fast schon wie die Predigt am Sonntagmorgen in der Kirche liest er regelmäßig seinen Schäfchen die Leviten. In seinem Vortrag geht er dem Gefühl nach, dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Hier lohnt sich der „long watch“ statt dem „short read“.

Wenn die Welt „Algorithmus-gerecht“ wird

Eigentlich sind Menschen, die sich nur in ihrer Filterblase bewegen, ganz praktisch. Zumindest für Facebook, Google und Co., findet Satiriker und Autor Schlecky Silberstein. So lässt sich Werbung noch gezielter ausspielen. Facebook ist der größte Inhalte-Makler der Welt, Texte müssen also „Algorithmus-gerecht“ sein. Das sind sie, wenn sie polarisieren, laut sind und keine Zwischentöne zulassen. Für die Debattenkultur einer Gesellschaft ist das aber Gift.

Wie wir Bullshit und Wert identifizieren

Gerade die Zwischentöne helfen uns doch, zu unterscheiden: Was ist wertvoll, was ist Bullshit? Wir alle haben Sensoren, die auf unterschiedliche Marker in unserem Alltag reagieren. Gunter Dueck, Mathematiker und ehemaliger IBM-Manager, verwendet ein schönes Bild: Menschen werden mit einem grundlegenden Betriebssystem – Basic Input Output System (BIOS) – geboren und entwickeln sich im Lauf ihres Leben in ein Windows-Betriebssystem, in dem nur noch Experten Änderungen vornehmen können. Wie unsere Sensoren und Marker beeinflusst werden, führt er in seinem Vortrag sehr anschaulich aus.

Wir müssen reden: Axel Voss in der Höhle des Löwen

Bei ihm lösen die Sensoren vieler re:publica-Besucher Ärger und Unverständnis aus – gemeint ist der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss. In den Wochen vor der re:publica tobte die Diskussion um die umstrittene Reform des europäischen Urheberrechts, und Voss ist sozusagen das Gesicht dieser Reform. Auf der re:publica wagte er sich in die Höhle des Löwen. Dass er dort wenig Fans hat, muss ihm klar gewesen sein. Er kam, wofür ihm Respekt gebührt, machte aber leider keine gute Figur im Gespräch mit Netzpolitik.org– und re:publica-Gründer Markus Beckedahl.

Der Blick von oben

Der letzte Redner hatte es da etwas leichter: Schon 2015 hingen die re:publica-Besucher gespannt an den Lippen von Alexander Gerst. Er erzählte von seinem ersten Einsatz auf der internationalen Raumstation ISS. Nach der zweiten Mission 2018 war er wieder zu Gast und sprach über die Zukunft der Weltraumforschung – und warum sie für den Menschen sinnvoll ist. Gerst versteht es, auch ernste Themen ohne erhobenen Zeigefinger anzusprechen, und hat doch eine Botschaft zu vermitteln. Wer als Kind schon immer von der Raumfahrt geträumt hat, sollte sich diesen Vortrag unbedingt anschauen – und den von 2015 am besten gleich danach.

Too long, didn’t read? Mein Fazit.

Zurück auf den Boden der Tatsachen: Was nehme ich mit? Der „long read“, das Reindenken in die Themen, die Zwischentöne und Details – all das ist wichtig und wird noch bedeutsamer. Deswegen braucht es Menschen, die komplexe Inhalte herunter brechen, ohne dabei entscheidende Informationen zu unterschlagen. Es braucht immer wieder auch eine gesunde Gelassenheit, die Zeit und Luft zum Reflektieren und Nachdenken lässt. Nicht höher, schneller, weiter, sondern tiefer, exakter, angemessener sollte das Ziel sein. Dafür braucht es Menschen. Denn eine KI hat keine Empathie und keinen gesunden Menschenverstand. Der lässt sich zum Glück (noch?) nicht in Algorithmen abbilden.

„Too much to watch“

Fast alle Vorträge kann man kostenlos auf YouTube nachschauen. Wen noch ein paar Zahlen rund um die re:publica interessieren: einfach hier weiterschauen. Einen bunten Einblick in das Treiben der drei Tage in Berlin gibt dieses Video.

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